Ursprünglich publizierter Politblog Beitrag von Michael Töngi auf zentralplus am 4. August.

Das Thema ist mindestens seit den Juniabstimmungen durch den Blätterwald gerauscht, allerdings taucht sie seit über 20 Jahren immer wieder auf. Besonders staunte ich über ein Gespräch mit der deutschen Schriftstellerin Juli Zeh, die in Brandenburg auf dem Land wohnt und davon sprach, dass Städter und Menschen auf dem Land „in verschiedenen Universen leben“ oder immerhin: „Auf einem anderen Planeten“. Sie würden andere Sachen lesen, hätten andere Hobbys und die Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen sei auch anders, es gebe immer weniger Durchmischung.

Einfaches Leben in den Tälern

Ich achte diese Stellungnahmen, aber: Ist das nicht etwas unhistorisch? Ich erinnere mich an eine Übung im Geschichtsstudium zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit der tollen Historikerin Heidi Witzig untersuchten wir die Lebensräume von Menschen in Tessiner Bergtälern, in der Basler Oberschicht und im industriellen Zürcher Oberland.

 

 

Nationalrat Michael Töngi
Und heute sollen diese Lebenswelten weiter auseinander liegen? Wo alle am Abend die gleichen Serien schauen? Die gleiche Aktion in der Migros einkaufen?
Michael Töngi, Nationalrat

Was mir vor allem geblieben ist: Im Tessin lebten viele Menschen noch vorwiegend ohne Geld. Sie produzierten sehr vieles, was sie zum Leben brauchten, selber: Lebensmittel, Möbel, Kleider, Geld brauchten sie für Salz, einen neuen Kupferkessel oder andere spezielle Güter. Diese gingen sie ein- oder zweimal im Jahr in einer Stadt einkaufen, verkauften dort eigene Produkte und bewegten sich dann für Monate nicht mehr aus den Seitentälern heraus. So habe ich das auch im letzten Sommer in Bosco Gurin im Museum gelesen – der 40 kilometerlange Weg nach Locarno wurde nur sehr selten unter die Füsse genommen, wobei das noch wörtlich gemeint war.

Auswanderung in die Stadt für Auskommen

Zur gleichen Zeit gab es in Zürich bereits eine Börse, in den Städten kam Elektrizität auf. Was für Unterschiede! Viele mussten aus dem ländlichen Raum und Leben in die Städte auswandern, um ein Auskommen zu finden. Dort fanden sie ein völlig anderes Leben vor, mussten in Fabriken arbeiten gehen, waren in Luzern etwa als Dienstboten und -mägde in Hinterzimmern mit dem Reichtum der Oberschicht und Touristinnen und Touristen konfrontiert. Der Kontakt zur Familie auf dem Land wird spärlich gewesen sein, vielleicht ein paar Briefe – sofern das mit dem Schreiben funktionierte – sehr selten einmal ein Besuch.

Das war auch vor 60 oder 70 Jahren noch ähnlich, wer als junger Mensch «in die Stelle» musste, hatte monatelang keinen Kontakt mehr zur Familie – je nachdem ob es bereits einen Telefonanschluss zu Hause gab. Meine Eltern hatten beide eine bäuerliche Herkunft. Die Familie meines Vaters galt als liberaler – bei der Ursachenforschung fand man: Die gingen halt ab und zu in Luzern auf den Markt.  

Lebenswelten rückten zusammen

Und heute sollen diese Lebenswelten weiter auseinander liegen? Wo alle am Abend die gleichen Serien schauen? Die gleiche Aktion in der Migros einkaufen? Ein schöner Teil der Landbevölkerung in städtischen Agglomerationen arbeiten? Oder Städterinnen fürs Wochenende aufs Land fahren? Wo die Vorgärten in den Agglomerationen gleich aussehen wie auf dem Land? Und die gleichen Autos vor den Garagen stehen? Bitte schön, diese Theorie der verschiedenen Planeten geht doch komplett an der Realität vorbei.

Der Stadt-Land-Graben wurde ja vor allem nach den letzten Abstimmungen bemüht. Das ist aber kein neues Phänomen. Ich habe willkürlich einige Abstimmungen verglichen. Je nach Thema konnten die Unterschiede bereits früher total markant sein. So etwa bei einer Initiative gegen Bodenspekulation im Jahr 1967, die in Genf angenommen wurde, in Obwalden aber nur 4.5 Prozent JA-Stimmen holte. Oder die sogenannte Fronteninitiative: Sie forderte 1935 eine Totalrevision der Bundesverfassung nach dem Geschmack frontistischer und rechtskonservativer Kreise. Im katholischen Freiburg wurde sie mit 55 Prozent angenommen, im liberalen reformierten Kanton Baselland dagegen mit 87 Prozent abgelehnt.

Sachfragen statt abstrakte Diskussionen

Was richtig ist: Die Befindlichkeiten und der Standpunkt für die Betrachtung eines Themas ist neben anderen Faktoren auch davon abhängig, ob man auf dem Land oder im städtischen Bereich wohnt. Dass eine Agrarinitiative deshalb unterschiedlich beurteilt wird, ist nicht grad erstaunlich. Ebenso bei Verkehrsthemen, der eine will möglichst ohne Hindernisse in die Stadt fahren, jemand anders wohnt dort und nervt sich über den Lärm. Sollte das jemanden erstaunen? Dass sich dann solche Meinungen in einem Milieu festigen und gegenseitig verstärken, ist auch nachvollziehbar.

Das heisst für mich: Diskutieren wir die Sachfragen, vielleicht lohnt es sich auch einmal, den Standpunkt des Gegenübers einzunehmen und die Sache aus seiner Sicht zu betrachten. Aber lassen wir ab von einer abstrakten Stadt-Land-Diskussion.